Die Herausgeber der Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft (ZKKW) haben einen Call for Papers für die Ausgabe 6/1 (2020) zum Rahmenthema Kollektivität in der „Gesellschaft der Singularitäten“ herausgegeben.
Räumliche Nähe verliert an Bedeutung für Sozialisation und soziale Beziehungen. Als Gründe dafür werden stichwortartig globale Mobilität und Digitalität angeführt. War der Erfahrungskontext einst begrenzt durch die Kontakträume, Freizeitangebote und Bildungsinstitutionen vor Ort, nehmen heute darüber hinaus gehende Faktoren Einfluss darauf, was wir erleben, lernen, mit wem wir interagieren und Gruppen bilden. Anders formuliert: Per Mausklick lassen sich soziale Beziehungen über große Distanzen eingehen und pflegen, auf globale Trends und Moden kann man ubiquitär zugreifen, und das, was einst als fern, kulturell anders oder exotisch verstanden wurde, kommt über den Bildschirm zu uns nach Hause.
Daraus scheinen zwei Konsequenzen zu folgen: Zum einen scheint die Bedeutung von Kollektivität im Realraum zu sinken. Individuen sind auf die Angebote lokaler Gruppen weniger angewiesen und deren bindenden Einfluss in geringerem Maße ausgesetzt. Das erhöht zum anderen die Wahlfreiheit jedes Einzelnen, der sich einer wahren Schwemme möglicher Ich-Offerten gegenüber sieht. Angesichts dieses Angebotsüberschusses fürchtet das Individuum, seine Kenntlichkeit zu verlieren. Verlust an Gemeinschaft, Individualisierung, Identitätsdiffusion lautet die eine Diagnose. Die andere bescheinigt den herkömmlichen Beschreibungskategorien der Sozialwissenschaften – Klassen, Schichten, Milieus – Gültigkeitsverlust. Sie sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, die soziale und kulturelle Pluralität unangemessen zu homogenisieren. Kritiken an zu weit gehenden Individualisierungsdiagnosen verweisen darauf, dass Gemeinschaftsbildung anthropologischen Bedürfnissen entspringt. Sie verschwindet nicht unter den Bedingungen von Globalität und Digitalisierung, sie verändert und vervielfältigt nur ihre Prozesse und Formen. Das Ergebnis ist keine Gesellschaft aus vermeintlich einzigartigen, atomisierten Individuen, sondern eine Gesellschaft unzähliger „Neogemeinschaften“, in denen sich die vielfältigen Interessen und Bedürfnisse bündeln – eine „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz).
Digitale und realräumliche Kollektivierung stehen dabei in Wechselwirkung. Einerseits mögen sich online aufgrund einer ausgefallenen Präferenz gebildete Kollektive entschließen, ganz herkömmliche Kollektivitäten vor Ort zu bilden (z.B. Vereine). Andererseits erlaubt die Digitalität (z.B. ihre Kommunikationsgeschwindigkeit), neue Formen von Kollektivität (z.B. den Flashmob) zu entwickeln. Zugleich scheint die Frage zurückzukehren, ob sich unter der bunten Oberfläche konsumbedingter Lebensstilpluralisierung nicht doch bei vielen Menschen Gleichartigkeiten der Lebensführung identifizieren lassen, die auf ökonomische Zwänge zurückzuführen sind.
Das würde bedeuten, dass mit Individualisierung oder Singularisierung vor allem eines nötig wird: neue Vokabulare und Theorien der Kollektivität, um die registrierbare Vielfalt wissenschaftlich noch beschreiben und erklären zu können.
Die Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft ruft für ihre Ausgabe 6/1 zu Beiträgen auf, die sich mit theoretischem und/oder empirischem Schwerpunkt den sich auflösenden oder neu entstehenden Formen von Kollektivität auseinandersetzen. Folgende Themen und Aspekte könnten dabei im Mittelpunkt stehen:
* neue Formen und neue Terminologien der Kollektivierung
* Neogemeinschaften/Neotribes (Maffesoli) als singularisierte Kollektive
* die Frage nach der Auflösung von Gesellschaften durch neue Kollektivitäten – und der wissenschaftliche (Un)Sinn des Gesellschaftsbegriffs
* die (Un)Möglichkeit digitaler Kollektivgebilde, dennoch realräumlich zu interagieren bzw. die Funktionen der realräumlichen zu übernehmen
* Tendenzen zur Rückbesinnung auf realräumliche Kollektivformen
* neue Praktiken kollektiver Zuschreibungen und der Bedarf der Praxis an solchen.
Interessentinnen und Interessenten bitten wir um die Einsendung entsprechender Abstracts (Word oder PDF) von ca. 1 bis 2 A4-Seiten bis zum 15. Juni 2019 an: forschungsstelle.kollektiv@ur.de
Weiteres Verfahren:
* 15. Juli 2019: Bekanntgabe der Entscheidung
* 15. Januar 2020: Einreichung der Manuskripte
* Ende Februar 2020: Rückmeldung zum Manuskript oder Fahne zur Kontrolle
* Publikation voraussichtlich Mai/Juni 2020
* Informationen zur Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft (ZKKW)
Die Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft ist das Forum einer neuen Forschungsperspektive, welche die Kulturwissenschaft zur Kollektivwissenschaft erweitert. Diese Perspektive lenkt den Blick auf das Kollektiv als Kulturträger und dient damit zum einen der praktischen Kulturforschung und gewährt zum
anderen neuartige Einblicke in das Wesen des Sozialen. Sie erscheint seit 2015 zweimal jährlich.
Die Forschungsstelle ist eine wissenschaftliche Einrichtung an der Universität Regensburg. Sie widmet sich der Förderung der Kollektivwissenschaft und wird von der Universität und der Hansen-Stiftung finanziert. Die Forschungsstelle besteht aus einer Geschäftsführung und fünf Mitgliedern, die als wissenschaftlicher Beirat der Zeitschrift fungieren.
Links:
* Homepage der Forschungsstelle Kultur und Kollektivwissenschaft: www.forschungsstelle.org
* Homepages der Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft:
* Forschungsstelle: https://www.uni-regensburg.de/sprache-literatur-kultur/kulturkollektivwissenschaft/
zeitschrift/index.html
*bei transcript: https://www.transcript-verlag.de/zeitschriften/zeitschrift-fuer-kultur-undkollektivwissenschaft/?
f=12320
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