Im November 2019 jährt sich der Fall der Mauer zum 30. Mal. Vor diesem Hintergrund veranstaltet die Universität Leipzig in Kooperation mit der Universität Freiburg/Brsg. vom 29.-30. November eine Tagung mit dem Schwerpunkt Erbe’89. Politisierung der Erinnerung – Deutungsversuche und Erklärungsansätze“.
Der Herbst 1989 mit seinen Massendemonstrationen auf den Straßen ostdeutscher Städte lässt sich als „charismatisches Ereignis“ beschreiben. Das situative Charisma gründet dabei in der Eigendynamik des politischen Umbruchs, in der Ungewissheit von Verlauf (friedlich) und Ausgang (unverhoffter Systemzusammenbruch) und schließlich auch in der Erfahrung der Aktionsmacht massenhaften Straßenprotestes. Die Ereignisse und Orte des Wendeherbstes sind zentraler Bestandteil und Ankerpunkt kollektiver Erinnerung und der – etwa im Leipziger Lichterfest – ritualisierten Tradierung eines geschichtspolitisch in der Öffentlichkeit dominanten „Revolutionsgedächtnisses“ (Sabrow) geworden.
Die Tagung geht von ’89 als charismatischem Ereignis aus und rückt die tiefe Prägekraft der Ereignisse auch für Gegenwartsdeutungen und politische Orientierungen in den Mittelpunkt. Über den Begriff der Politisierung zielt sie auf
gegenwärtige Aneignungen von 1989.
Der politische Transformationsprozess von 1989/90 lässt sich idealtypisch als Abfolge unterschiedlicher Modi politischer Beteiligung beschreiben. Er nimmt seinen Ausgangspunkt bei der (Volks)Versammlungsdemokratie der Straßenproteste im Herbst 1989. Aus der Oppositionalität, aber auch aus der elitenkritischen und politikabstinenten „Halbdistanz“ (Rehberg) heraus strömten die Menschen landesweit auf die Straße. Damit setzten die Proteste eine Eigendynamik in Gang, die in den Zusammenbruch der SED-Herrschaft mündete.
Diese Phase transformierte sich für eine kurze Zeit in die direkte
Verhandlungsdemokratie der überregionalen und lokalen Runden Tische und mündete schließlich mit der Wiedervereinigung in die Implementierung von Institutionen und Verfahren der repräsentativen Demokratie. Der Stellenwert dieser Phasen innerhalb des offiziellen erinnerungskulturellen „Inventars“ variiert. Die Erinnerung an die Runden Tische ist gegenüber den „charismatischen“ Ereignissen des Herbstes marginalisiert. Die Erinnerung an den Aufbau der parlamentarischen Demokratie mit der Wiedervereinigung ist retrospektiv überlagert von den wirtschaftlichen Schieflagen des Transformationsprozesses.
Auf die verschiedenen Modi politischer Beteiligung wurde nach 1989 immer wieder symbolhaft Bezug genommen und sie wurden teilweise gegeneinander in Stellung gebracht: auf den „Montagsdemonstrationen“ gegen die HARTZ-IV
Gesetzgebung, auf den „Montagsmahnwachen“ im Kontext des russisch-ukrainischen Krieges und zuletzt auf den Demonstrationen von PEGIDA (und Ablegern), die sich unter dem Ruf „Wir sind das Volk“ versammelten. Die Erinnerung und symbolische Bezugnahme auf die Straßenproteste von 1989 dienen hier als Selbstlegitimation für Protest und Widerstand gegen eine sogenannte „Meinungs- und Gesinnungsdiktatur“ in Deutschland. Aus der Perspektive vieler DemonstrantInnen formierte sich offenbar also die „Volksversammlungsdemokratie“ gegen Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie und die Institutionen der Gewaltteilung.
Die irritierenden Wiedergänger der Montagsdemonstrationen sind ein Hinweis auf möglicherweise tieferliegende Entwicklungen seit 1989. Unterhalb der bekannten erinnerungskulturellen Differenzen existieren offenbar – so die These – zusätzliche konkurrierende Vorstellungen von Demokratie, die auf die Erfahrungen in der DDR und auf die Ereignisse von 1989 bezogen sind.
Im Mittelpunkt der Tagung stehen divergierende und teilweise konkurrierende (Alltags)Verständnisse von Demokratie sowie ihr Bezug zu 89-spezifischen Erfahrungen. Gefragt wird nach konkreten Formen der Politisierung des Erinnerns: nach relativierenden Vergleichen der DDR mit vermeintlich gleichen oder schlimmeren politischen Verhältnissen in der heutigen Zeit, nach Protestmobilisierungen einer „Politik der Straße“, geschichtspolitischen Kontroversen sowie eigensinnigen Ausdeutungen der Demokratie und des Politischen.
Mit der Re-Aktualisierung und Politisierung von ’89 in der Gegenwart
greift die Tagung ein aktuell viel diskutiertes, zugleich weithin noch unverstandenes Phänomen auf. Dabei verfolgen wir einen multiperspektivischen Ansatz, der verschiedene Kontexte, empirische Zugänge sowie unterschiedliche disziplinäre Perspektiven berücksichtigt. Wir sind an Beiträgen interessiert, die sozialwissenschaftliche Deutungs- und Erklärungsansätze, erinnerungs- und
geschichtskulturelle Kontextualisierungen sowie Perspektiven auf die Implikationen konkurrierender Demokratieverständnisse für die politisch-historische Bildung anbieten. Konkret: Politisierung von ’89
? Empirische Beiträge und/oder Erklärungsansätze zu Formen und Ausprägungen von Distanznahmen, Entfremdungen und eigensinnigen Aneignungen von und Erwartungen an Demokratie in Ostdeutschland
? Konzeptuelle Beiträge zur Erforschung des Alltagswissens und von Alltagsdeutungen des Demokratischen
? Beiträge zu den Verbindungen zwischen dominanten Geschichtsnarrativen zu ’89 und eigensinnigen oder „abweichenden“ Deutungen von Demokratie
’89 und populäre Geschichtskultur
? Beiträge, die sich mit der populären Geschichtskultur zu 1989/90 beschäftigen und die am konkreten Beispiel Narrative, Bilder und Mythen diskutieren
? Konzeptionelle Ansätze, die das Verhältnis von populärer Geschichtskultur zu erinnerungskulturell sowie geschichtspolitisch dominierenden Deutungen analysieren ’89 in der politischen Bildung
? Untersuchungen, die gegenwartsbezogene Bilder des Politischen und ihre Bedeutung für die historisch – politische Bildung zum Thema ’89 fokussieren
? Beiträge zu divergierenden Geschichtsbildern in der Vermittlungsarbeit zu Mauerfall und Wiedervereinigung
? Konzeptionelle Ansätze zu Formaten und Strukturen der historisch-politischen Bildung als Demokratiebildung, sowie Chancen und Risiken dieses Konnexes
? Empirische Beiträge zum Verhältnis von individuellen Aneignungsformen von Jugendlichen, Vermittlungsformaten und pädagogischen Erwartungshorizonten in der historisch-politischen Bildung, speziell zum Thema 1989/90, aber auch darüber hinaus
Die interdisziplinäre Konferenz richtet sich an VertreterInnen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften sowie an PraktikerInnen aus der historisch-politischen Bildung. Bewerbungen von NachwuchswissenschaftlerInnen sind ausdrücklich
erwünscht. Reise- und Übernachtungskosten werden übernommen.
Bitte richten Sie Ihre Einreichungen für Vorträge zum Tagungsthema (Word-Datei, Titel des Beitrags, Abstract, Name, EMail-Adresse und Institution/Affiliation, zusammen ca. 2.500 Zeichen) bis zum 18. April 2019 an Dr. Anna Lux (anna.lux@geschichte.uni-freiburg.de) und Dr. Alexander Leistner (a.leistner@uni-leipzig.de).
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