Wem „gehört“ die Erinnerung an die ostdeutsche Nachwendezeit? Diese Frage steht zunehmend im Zentrum politischer Polarisierungsprozesse und Wertkonflikte in Deutschland. Seitdem sich die Alternative für Deutschland (AfD) als „Stimme“ des Ostens erfunden hat – „Wende 2.0“ plakatierte die Partei im Osten bei den Landtagswahlen 2019 – hat der Deutungskampf um die Erinnerung an die friedliche Revolution von 1989/90 und die Erfahrung der Nachwendezeit eine neue Qualität erhalten. Dieses Buchprojekt trägt sozialwissenschaftliche Perspektiven, die die Hintergründe dieser Entwicklungen erhellen, zusammen. Die zentrale These lautet, dass die Nachwendezeit heute selbst ein Raum der Erinnerung ist.
Schlüsselerfahrungen insbesondere der 1990er Jahre – am Arbeitsplatz, in der Familie, im zwischenmenschlichen Bereich – werden heute narrativiert und mit Bedeutungskonstruktionen versehen. Es handelt sich allerdings nicht um einen neutralen Erinnerungsraum: Die Nachwendezeit war eine kollektive Umbruchserfahrung der ostdeutschen Teilgesellschaft.1 Sie war durch die Konfrontation mit Neuem geprägt – in Form eines umfassenden Werte-, Wissens-, und Sozialwandels und war ebenso durch Momente der Krisenhaftigkeit, insbesondere am Arbeitsmarkt, bestimmt: Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Abhängigkeit von der westdeutschen Sozialstaatlichkeit, Geburteneinbruch und hohe Scheidungsraten sowie massenhafte Abwanderung brachten strukturelle Weichenstellungen im Lebenslauf. Als Reaktion darauf stellten sich Gefühle der Verunsicherung und das Bedürfnis, den Wert der eigenen Biographie zu demonstrieren, vielerorts als Mentalitätsgefüge ein.
Es sind Einreichungen zu drei Themenfeldern erwünscht:
1. Familienerinnerungen und Generationserfahrungen DDR- und Nachwendegeschichten lassen sich auch unter der Perspektive familialer und generationaler Erinnerung betrachten. Die nach 1990 geborenen Nachwendekinder blicken anders auf die Vergangenheit als eine Generation, die mit Fahnenappell, FDJ-Hemd und realsozialistischem Alltag groß geworden ist.
* Wie gestalten sich generationale Dynamiken in postsozialistischen Gesellschaften?
* Welche Machtverhältnisse finden wir hierbei in Bezug auf die Deutungshoheit der Vergangenheit?
* Welche Rolle spielen Erinnerungskollektive wie die Familie im Prozess der Wissensweitergabe im Vergleich zu öffentlichen Gedächtnispraktiken?
* Lässt sich mit Blick auf die Zäsur von 1989 eine integrierende Postwendegeneration in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa ausmachen?
2. Arbeitserinnerungen und Gerechtigkeitsvorstellungen Der Umbruch von 1989 resultierte in ganz Mittelosteuropa in der massiven ökonomischen und symbolischen Abwertung von Arbeit und im raschen Anstieg gesellschaftlicher Ungleichheit. Im ostdeutschen Fall nahm die Arbeitsmarktkrise dramatische Ausmaße an: Die industriellen Strukturen der DDR-Wirtschaft wurden weitestgehend aufgelöst; massenhafte Arbeitslosigkeit und die langfristige Kanalisierung von Erwerbsbiographien in wohlfahrtsstaatliche Auffangnetze waren die Folge. Was bedeutet dieser Einschnitt vor dem Hintergrund des staatssozialistischen Erbes von Arbeit als Quelle von Zugehörigkeit für die Erinnerung?
* Wie (und im Hinblick auf welche Elemente und Erfahrungen) wird die Arbeitsmarktkrise in der Erinnerung an die Nachwendezeit verhandelt?
* Welche Vorstellungen von Respektabilität, Wert und Anerkennung werden vor dem Hintergrund von ökonomischen und symbolischen Ab- und Aufwertungserfahrungen heute verhandelt? Wie schlagen sich die Bezüge dazu heute in milieuspezifischen kulturellen und symbolischen Grenzziehungen nieder?
* Was bedeutet die Erinnerung an die Transformation der Arbeit für subjektive Gerechtigkeitsorientierungen? Wir wird z.B. wirtschaftliches „Scheitern“ heute narrativiert und bewertet?
* Inwiefern prägen kollektive oder auch nationale Deutungen der Transformationsperiode (z.B. Diskurse über Privatisierung) die individuelle Erinnerung?
3. Konservatismus und Nationalismus In der kollektiven Erinnerung wird die friedliche Revolution 1989 Deutschland sowie der Zusammenbruch des Sozialismus in Ostmitteleuropa heute vordergründig als eine Bewegung für Freiheit und Demokratie gewertet. Weniger beachtet ist bisher die Frage, welche Rolle Konservatismus und Nationalismus als politische und kulturelle Formen der Erinnerung sowie ls politische Ideale für ein zukünftiges Deutschland in der Nachwendezeit und ein postsozialistisches Ostmitteleuropa spielen. Dieses Themenfeld soll einerseits die konservativen Milieus in der DDR und deren Verbindungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu konservativen Milieus in anderen Ostmitteleuropäischen Ländern sowie deren erinnerungspolitische Rolle in den frühen 1990er Jahren beleuchten. Andererseits soll untersucht werden, inwiefern das Ostmitteleuropa und Ostdeutschland der Nachwendezeit als kulturell und ethnisch homogeneres und somit „authentischeres“ Deutschland bzw. Europe wahrgenommen oder (wieder)entdeckt wurde und somit zur Genese eines neuen Konservatismus und Nationalismus beigetragen hat.
* Welche Rolle spielt die an einem positiven Heimat- und Nationalbewusstsein ausgerichteten Erinnerungspolitik der DDR und anderer ostmitteleuropäischer Staaten in konservativen und nationalistischen Antworten auf die Umbrüche der Nachwendezeit?
* Inwiefern dient die ostdeutsche und ostmitteleuropäische Erinnerung an einen „sozialistischen Totalitarismus“ als Selbstlegitimation für einen neuen Konservatismus und Nationalismus heute?
* Welche Rolle spielt die Nachwendeerfahrung eines als oktroyiert wahrgenommenen gesellschaftlichen Umbaus, der Marginalisierung und Ausgrenzung der Ostdeutschen und Ostmitteleuropäer als regressiv, und demokratisch ungebildet in der aufwertenden Selbstbeschreibung und Idealisierung des Ostens als Vorreiter eines neuen globalisierungskritischen und auf kulturelle und ethnische Homogenität ausgerichteten Konservatismus und Nationalismus?
Die Beiträge können sich jeweils auf die angegebenen Fragen beziehen; es besteht aber auch die Möglichkeit, andere Aspekte zu thematisieren. Auch Querverbindungen zwischen den drei thematischen Feldern sind durchaus denkbar. Bitte schicken Sie Ihr Abstract (maximal 500 Wörter) inklusive einer Kurzvita bis zum 30. September 2020 an die Herausgeber*innen Hanna Haag, Till Hilmar und Julian Göpffarth: Hanna.Haag@hszg.de, till.hilmar@uni-bremen.de, J.J.Gopffarth@lse.ac.uk Die ausgewählten Autor*innen werden wir zügig benachrichtigen. Die vollständigen Beiträge mit 30.000-50.000 Zeichen (inklusive Literaturangaben und Quellen) müssen bis zum 31. März 2021 eingereicht werden.
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