Das Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig veranstaltet vom 18.-19. März 2020 eine Konferenz mit dem Thema „Kultursysteme in der Transformation: zwischen Identitätspolitik und Vergangenheitsbewältigung (1989 – 2019)“.
Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Staaten 1989/90 mündete in eine Transformation der Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa. Im Bereich der Kultur prägten Privatisierungstendenzen, ein neues Aushandeln des politischen Auftrags von staatlich geförderten Kultureinrichtungen und eine Neuordnung ihrer Finanzierung unter neoliberalen Vorzeichen den Umbau der Kulturlandschaft das Bild. Dies gilt sowohl in der ehemaligen DDR, als auch in Polen, Ungarn und den anderen ehemals staatssozialistischen Ländern. Diese Tendenzen waren verbunden mit einer Verschiebung von einer Angebots- zu einer Nachfrageorientierung, einem veränderten Verbraucher- bzw. Kulturnutzerverhalten sowie einem Verflüssigen der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur auf künstlerischer, institutioneller und diskursiver Ebene.
Auch die liberalen Demokratien des Westens, allen voran das wiedervereinte Deutschland, sahen sich nach dem Ende des Systemgegensatzes neuen Herausforderungen ausgesetzt: Die öffentliche Kulturfinanzierung geriet im Zuge der einsetzenden Konsolidierungsbestrebungen der öffentlichen Haushalte unter Druck. Das Übertragen von Ansätzen des New Public Management auf Kulturbetriebe bedeutete sowohl eine erhöhte Eigenverantwortlichkeit, aber oft auch eine geringere Unterstützung durch die öffentliche Hand und sorgte seinerseits für eine Neuausrichtung der Betriebe auf wirtschaftlicher wie inhaltlicher Ebene. Der damit verbundene Personalabbau führte dann gerade im Osten Deutschlands bei Orchestern und Theatern zu zahlreichen Fusionen und Spartenschließungen.
Die Konferenz nimmt die Entwicklung der Kultursysteme vor allem in den ehemals staatssozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in vergleichender Perspektive in den Blick und wendet sich dabei besonders an Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler. Die vorliegenden Ergebnisse aus den einzelnen Staaten sollen zusammengeführt werden, um neue transnationale Perspektiven zu generieren und sie in Beziehung zu internationalen Entwicklungen zu setzen. Der Vergleich zielt darauf, zu untersuchen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es bei der Transformation der Kultursysteme in den ostmitteleuropäischen Staaten gab und welche Auswirkungen sie für die Stellung der Kultur und die Artikulationsmöglichkeiten von Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen in gesellschaftlichen Krisenmomenten hatten.
Insbesondere soll die Frage behandelt werden, wie Künstlerinnen und Künstler sowie Kulturinstitutionen in die neuen Meistererzählungen nach 1989/90 integriert wurden, die an die Stelle des marxistisch-leninistischen Narrativs traten. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Verhältnis von Politik und Kultur und den durch die Politik begründeten Institutionen und Strukturen. Dabei werden sowohl die nach 1989/90 neu begründeten Institutionen und Einrichtungen betrachtet als auch der Umgang mit den aus der staatssozialistischen Periode stammenden.
Zudem soll die Frage nach dem Wandel der kulturellen Eliten auf der Konferenz zur Sprache kommen. Außer in Ostdeutschland erfolgte dieser Elitenaustausch über rein interne Mechanismen, wobei oftmals Dissidenten und Oppositionelle aus staatssozialistischer Zeit zentrale Stellen besetzen konnten. Einige Kulturschaffende – wie an besonders herausgehobener Position Václav Havel – haben bei der Neuordnung von Staat und Kultur an prominenter Stelle mitgewirkt, während andere nach den Umwälzungen rasch an gesellschaftlichem Einfluss verloren. In der ehemaligen DDR bildete sich zudem aufgrund der Dominanz von westdeutschen Diskursen und Eliten eine Tendenz heraus, auf gewisse kulturelle Eigen- und Widerständigkeiten zu beharren. Die Frage der Vergangenheitsaufarbeitung stellte sich sowohl für individuelle Verstrickungen mit den alten Regimen als auch für die Institutionen des Kulturbereichs.
Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas, wo rechtsstaatliche und freiheitliche Formen und Normen zu Gunsten einer „illiberalen Demokratie“, wie der ungarische Präsident Victor Orbán sie für Ungarn verkündet hat, zurückgedrängt werden, soll der Frage nachgegangen werden, wie diese neuen nationalistische Tendenzen erklärt werden können, welche kultur- und identitätspolitischen Konzepte sie befördert haben und wie sich Kulturakteure dazu positionieren.
Vorträge sollen sich vor allem den folgenden Themenkomplexen zuwenden:
* Transformationen der Kultur- und Identitätspolitik zwischen ökonomischen Zwängen, politischem Wollen und erkämpfter Freiheit im Vergleich
* Entwicklungen in einzelnen Kulturbereichen (Theater, Kunst, Musik, etc.)
* Freie Kultur unter Beschuss – Affirmation und Widerstand von Kultur und Kunst angesichts neuer Nationalismen
Die Tagung wird am 18. und 19. März 2020 in Leipzig stattfinden. Eingeladen sind sowohl der wissenschaftliche Nachwuchs als auch etablierte Forscherinnen und Forscher. Die Kosten für Anreise und Übernachtung der Konferenzteilnehmer werden voraussichtlich durch die Veranstalter gedeckt. Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch.
Themenvorschläge in Form eines Abstracts (max. 300 Wörter) werden zusammen mit einem kurzen Lebenslauf bis zum 15. Juli 2019 erbeten an Dr. Torben Ibs (Torben.Ibs@web.de) und Prof. Dr. Thomas Höpel (hoepel@uni-leipzig.de).