Deutschland und Europa stehen im 21. Jahrhundert vor der Aufgabe, große Veränderungen zu bewältigen, die durch Treiber wie Globalisierung, Digitalisierung, demographischer Wandel und weltweite Migration beeinflusst werden. Wie unsere Gesellschaften diesen Wandel gestalten, wird darüber entscheiden, ob wir auch künftig in friedlichen, freien, prosperierenden und stabilen Verhältnissen leben können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) adressiert mit seinem neuen Rahmenprogramm für die Geistes- und Sozialwissenschaften unter dem Titel „Gesellschaft verstehen – Zukunft gestalten“ (https://www.bmbf.de/de/geistes-und-sozialwissenschaften-152.html) verschiedene Handlungsschwerpunkte, die die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit in den Blick nehmen. Im Bereich „Stärkung der Forschung zu Zusammenhalt“ steht dabei die Fragestellung im Zentrum, wie es Gesellschaften gelingt, angesichts dynamischer Veränderungen Freiheit, Solidarität, Wohlstand und Sicherheit zu bewahren und zu stärken. Sukzessive sollen Förderbekanntmachungen zu den damit verbundenen Herausforderungen veröffentlicht werden. Bereits erschienen ist eine Bekanntmachung zum Aufbau eines „Instituts für gesellschaftlichen Zusammenhalt“.
Der Zusammenhalt Europas ist eine zwingende Voraussetzung für den Wohlstand, die Sicherheit und die Zukunftsfähigkeit unseres Kontinents. Die Sozial- und Geisteswissenschaften können hierzu einen Beitrag leisten, indem sie ein Verständnis für die vielfältigen Voraussetzungen und komplexen Funktionsweisen von Zusammenhalt schaffen und zugleich Lösungsansätze für seine Stärkung entwickeln. Vor diesem Hintergrund wird mit der vorliegenden Bekanntmachung zur Unterbreitung von Projektvorschlägen aufgefordert, die den Zusammenhalt in der Europäischen Union (EU) – verstanden als belastbares und verlässliches Interaktionsverhältnis zwischen ihren Mitgliedsstaaten sowie ihren Bürgerinnen und Bürgern – aus interdisziplinärer Perspektive untersuchen.
Der Zusammenhalt und das Zusammenwirken in der EU wurden seit Beginn des europäischen Vereinigungsprozesses immer wieder herausgefordert. Einschneidend war das Scheitern einer Europäischen Verfassung im Jahr 2004. Es verdeutlichte, dass die Bevölkerungen der Mitgliedsländer keineswegs uneingeschränkt von den Vorteilen der europäischen Integration und den dafür aufgebauten Strukturen überzeugt sind. Die Finanz- und Wirtschaftskrise wie auch die Flucht- und Migrationsdynamiken haben Zweifel an der Bereitschaft geschürt, besondere Risiken oder Belastungen gemeinschaftlich zu tragen. Europaweit erhalten populistische Parteien und Bewegungen Zulauf, die sich mit anti-europäischen Positionen profilieren. Schließlich offenbart der anstehende Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union die prinzipielle Umkehrbarkeit des europäischen Integrationsprozesses. Geopolitisch sieht sich die EU zugleich vielfältigen Veränderungen und neuen Anfechtungen gegenüber, die ihr Zusammenwirken in den Bereichen Sicherheits- und Bündnis- sowie Wirtschafts-, Handels- und Industriepolitik herausfordern. Diese verschiedenen Entwicklungen haben grundlegende Fragen nach Zusammenhalt und Solidarität, nach Demokratie und politischer Legitimation sowie nach den systemischen, sozialen und kulturellen Integrationsprozessen innerhalb der Europäischen Union aufgeworfen.
Je nachdem, ob Zusammenhalt im Kontext direkter Transfers zwischen Mitgliedsstaaten, der Vergemeinschaftung von Risiken, sicherheitspolitischer Garantien, einer gemeinsamen Außenpolitik oder von Medien, Sprache und Kultur diskutiert wird, stehen jeweils unterschiedliche Aspekte im Vordergrund. Das BMBF fördert Forschungsvorhaben, welche diese verschiedenen Facetten des Zusammenhalts in der Europäischen Union sowie die jeweiligen Bedingungen, Dynamiken und Einflussfaktoren untersuchen.
Übergreifendes Ziel ist es, ein besseres Verständnis vom Zustand des Zusammenhalts in der EU zu entwickeln und zur Stärkung dieses Zusammenhalts beizutragen. Die Forschungsvorhaben sollen Impulse für die entsprechenden gesellschaftlichen Diskurse geben und von praktischer Relevanz sein, das heißt, sie sollen aktuelle Problemstellungen und Handlungsbedarfe aufgreifen sowie gegebenenfalls Lösungsansätze für die Politik entwickeln. Die Einbeziehung von Praxisakteuren ist besonders erwünscht.
Europa verfügt über stark miteinander verwobene kulturelle Traditionen und eine Vielzahl geteilter Werte. Zugleich sorgen insbesondere die Vielfalt der europäischen Sprachen, gegensätzliche historische Erfahrungen sowie unterschiedliche nationale Erinnerungskulturen für ein hohes Maß an kultureller Diversität. Für die Entstehung eines gemeinsamen kulturellen Selbstverständnisses stellt diese Diversität eine Herausforderung dar. Hinsichtlich des politischen Integrationsprozesses der EU impliziert sie zudem teilweise divergierende Zielstellungen. So müssen beispielsweise verschiedene kulturell hinterlegte Herangehensweisen an Institutionensysteme wie Recht, Ökonomie und Zivilgesellschaft miteinander in Einklang gebracht werden. Die Einordnung der Einflüsse unterschiedlicher nationaler wie auch gemeinsamer europäischer kultureller Grundlagen auf den Zusammenhalt in der EU stellt ein wichtiges Desiderat dar.
Dabei werden unter anderem die folgenden Fragen aufgeworfen:
* Wie können gemeinsame Werte und gemeinsame kulturelle Traditionen in der EU zur Entstehung eines Selbstverständnisses als Gemeinschaft beitragen?
* Welche Verständigungsprozesse über unterschiedliche kulturelle Prägungen und Sichtweisen setzt Zusammenhalt voraus?
* Und wie lassen sich diese Prozesse initiieren?
Der Zusammenhalt der EU wird auf mehreren Ebenen durch unterschiedliche Organisationsprinzipien und -prozesse beeinflusst. Vielfach leitend ist das Prinzip der Subsidiarität, also der Regelung von Sachverhalten auf der niedrigst-möglichen Ebene. Auch der Zusammenhalt in Europa gründet nicht zuletzt auf lokalen bzw. regionalen Initiativen und Interaktionen. Zugleich beruht die europäische Integration jedoch auch wesentlich auf Prozessen der Zentralisierung und Standardisierung. Hierzu zählen unter anderem der Aufbau eines gemeinsamen Rechtssystems, die Einführung einer gemeinsamen Währung und die Vereinheitlichung von Verwaltungsprozessen. Die Europäische Union wird aus dieser Perspektive teilweise als ein „top-down“-gesteuertes, unzureichend demokratisiertes Elitenprojekt kritisiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen der Akzeptanz europäischer Strukturen, Institutionen und Prozesse auf der einen und der Stärke des Zusammenhalts auf der anderen Seite. Von Interesse sind zudem die folgenden Aspekte: Wie und unter welchen Voraussetzungen entsteht grenzüberschreitende Solidarität? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Verteilung der Vorteile der europäischen Integration zwischen und innerhalb der Mitgliedsstaaten sowie dem Zuspruch zu anti-europäischen Positionen? Welche Reformen der europäischen Entscheidungsstrukturen und -prozesse könnten zur Stärkung des Zusammenhalts beitragen?
Die Entwicklung und Ausprägung von Zusammenhalt beruhen zu nicht unwesentlichen Teilen auf dessen individueller und kollektiver Wahrnehmung. So wirkt sich beispielsweise die wahrgenommene Fairness der politischen Prozesse in der EU maßgeblich auf den Zusammenhalt aus. Die entsprechenden Wahrnehmungen können sich grundlegend zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen verschiedenen soziodemographischen Gruppen unterscheiden. Dies wirft unter anderem die folgenden Fragen auf: Welche Faktoren prägen die Wahrnehmung des Zusammenhalts in der EU? Wie lässt sich die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit befördern, in der unterschiedliche Wahrnehmungen und Sichtweisen produktiv ausgehandelt werden können? Welche Rolle spielt dabei die Vermittlung europapolitischer Themen in den (sozialen) Medien?
Durch ihre Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten ist die EU zu einem wichtigen internationalen Akteur geworden. Sie ist u. a. im wirtschaftlichen, diplomatischen und sicherheitspolitischen Bereich weltweit aktiv. Ein gemeinsames Auftreten ermöglicht den Mitgliedsstaaten, ihre jeweils abnehmende geopolitische Bedeutung (zumindest teilweise) zu kompensieren. Die Stärkung des Zusammenhalts über eine Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik verlangt ihnen allerdings den Verzicht auf Teile ihrer nationalstaatlichen Souveränität ab. Unterschiedliche Entwicklungen im globalen Umfeld wirken direkt auf den Zusammenhalt innerhalb der EU ein. Ungelöste Interessenkonflikte zwischen den Mitgliedsstaaten können dabei die Geschlossenheit gegenüber Dritten schwächen. Beobachten lassen sich auch gezielte Einflussnahmen äußerer Akteure auf den europäischen Zusammenhalt. Diese zielen nicht nur auf den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern versuchen teilweise auch verschiedene soziale Milieus grenzübergreifend gegeneinander auszuspielen. In diesem Zusammenhang stellen sich beispielsweise folgende Fragen: Wie wirken sich geopolitische (Interessen-)Konflikte mit Drittstaaten auf den Zusammenhalt der EU aus? Welche Faktoren beeinflussen die Bereitschaft, außenpolitische und außenwirtschaftliche Partikularinteressen einem europäischen Gesamtinteresse unterzuordnen? Wie kann sich die EU gegen offene oder verdeckte Spaltungsversuche von außen schützen?
Der methodische Zugang zu den Fragestellungen ist offen, interdisziplinäre Ansätze sind erwünscht. Förderfähig sind sowohl qualitative, quantitative und vergleichende – als Referenzrahmen auch internationale – Untersuchungen bzw. eine Mischung verschiedener Ansätze. Eine Fokussierung des Forschungsgegenstandes auf einen spezifischen Politikbereich (z. B. Sicherheit, Soziales oder Bildung und Forschung) ist möglich.
Das Themenfeld „Zusammenhalt in Europa“ ist von herausragendem gesellschaftspolitischem Interesse, weshalb Fragen des Wissenstransfers und der Austausch mit der Praxis Gegenstand jedes Projektvorschlags sein müssen. So wird erwartet, dass die Projektvorschläge Überlegungen dazu beinhalten, welche außerwissenschaftlichen Akteure an den Ergebnissen interessiert sind und wie diese gegebenenfalls in die Konzeption und/oder in die Arbeit im Projektverlauf integriert werden können.
Die Beteiligung europäischer Kooperationspartner ist erwünscht. Begrüßt wird insbesondere die Zusammenarbeit mit Partnern, die über eigene Fördermittel verfügen (siehe Kapitel 3). In begrenztem Umfang besteht zudem die Möglichkeit der Einbindung über einen F+E-Vertrag oder über einen Gastwissenschaftler-Aufenthalt. Eine direkte Förderung ausländischer Partnereinrichtungen durch das BMBF ist ausgeschlossen.
Antragsberechtigt sind Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, gegebenenfalls Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft, Nicht-Regierungsorganisationen sowie andere Institutionen, die Forschungsbeiträge liefern können und Zuwendungszweck und -voraussetzungen erfüllen. Die Beteiligung von Forschenden aus Kleinen Fächern wird begrüßt.
Zum Zeitpunkt der Auszahlung einer gewährten Zuwendung wird das Vorhandensein einer Betriebsstätte oder Niederlassung (Unternehmen) bzw. einer sonstigen Einrichtung, die der Tätigkeit des Zuwendungsempfängers dient (Hochschule, Forschungseinrichtung, Verein usw.) in Deutschland verlangt.
Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) oder „KMU“ im Sinne dieser Förderrichtlinie sind Unternehmen, die die Voraussetzungen der KMU-Definition der EU erfüllen (vgl. Anhang I der AGVO bzw. Empfehlung der Kommission vom 6. Mai 2003 betreffend die Definition der Kleinstunternehmen sowie der kleineren und mittleren Unternehmen, bekannt gegeben unter Aktenzeichen K (2003) 1422 (2003/361/EG)): http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32003H0361&from=DE
Der Zuwendungsempfänger erklärt gegenüber der Bewilligungsbehörde seine Einstufung gemäß Anhang I der AGVO im Rahmen des schriftlichen Antrags.
Die Zusammenarbeit mit ausländischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen ist möglich. Sie können zwar keine eigene Zuwendung erhalten, aber z. B. im Rahmen von Gastaufenthalten oder Unteraufträgen integriert werden.
Forschungseinrichtungen, die von Bund und/oder Ländern grundfinanziert werden, kann neben ihrer institutionellen Förderung nur unter bestimmten Voraussetzungen eine Projektförderung für ihre zusätzlichen projektbedingten Ausgaben beziehungsweise Kosten bewilligt werden. Zu den Bedingungen, wann staatliche Beihilfe vorliegt/nicht vorliegt, und in welchem Umfang beihilfefrei gefördert werden kann, siehe Mitteilung der Kommission zum Unionsrahmen für staatliche Beihilfen zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation vom 27. Juni 2014 (ABl. C 198 vom 27.6.2014, S. 1); insbesondere Abschnitt 2.
Mit der Abwicklung der Fördermaßnahme hat das BMBF derzeit seinen Projektträger (PT) im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. beauftragt:
DLR Projektträger
Gesellschaft, Innovation, Technologie
Geistes- und Sozialwissenschaften
Heinrich-Konen-Straße 1
53227 Bonn
Ansprechpartner sind:
Dr. Monika Wächter
Telefon: 02 28/38 21-15 97
E-Mail: monika.waechter@dlr.de
Dr. Cedric Janowicz
Telefon: 02 28/38 21-17 69
E-Mail: cedric.janowicz@dlr.de
Das Antragsverfahren ist zweistufig angelegt.
In der ersten Verfahrensstufe sind dem DLR Projektträger bis spätestens 30. September 2019 zunächst formlose, begutachtungsfähige Projektskizzen in elektronischer Form über das folgende Internetportal vorzulegen: https://foerderportal.bund.de/easyonline/reflink.jsf?m=GSW&b=ZUSAMMENHALT_IN_EU&t=SKI
Die Projektskizze soll enthalten:
* Deckblatt mit Thema des beabsichtigten (Verbund-)Projekts, mit grob abgeschätzten Gesamtkosten/Gesamtausgaben und Projektlaufzeit, mit Anzahl und Art der Partner sowie mit Postanschrift, Telefonnummer, E-Mail usw. des Skizzeneinreichers,
* Ideendarstellung/Vorhabenziel, Angaben zum Stand der Wissenschaft beim Förderinteressenten (wie Vorarbeiten, vorhandene Erkenntnisse, Kontext zu vorangegangenen und/oder laufenden Forschungen/Entwicklungen/Untersuchungen),
* Skizzierung des angedachten Projektdesigns sowie der vorgesehenen Forschungsmethoden, geplante Kooperationen (soweit bereits absehbar),
* Einschätzung der Verwertungs-/Anwendungsmöglichkeiten,
geschätzte Ausgaben/Kosten (einschließlich Beteiligung Dritter und voraussichtlicher Zuwendungsbedarf und gegebenenfalls Projektpauschale)
Die Projektskizze sollte zwölf Seiten (einschließlich Deckblatt und Anlagen) nicht überschreiten. Die eingegangenen Projektskizzen werden unter Einbeziehung externer Gutachterinnen und Gutachter nach folgenden Kriterien bewertet:
* wissenschaftliche Qualität des Projektes und Originalität der Forschungsidee,
Relevanz der Forschungsfrage,
* Angemessenheit der Forschungsmethode,
* plausible Arbeitsteilung zwischen Projektpartnern,
* Stringenz des Projekt- und Forschungsdesigns und bei Verbünden des Kooperationskonzepts,
* Verwertungsperspektiven, Sichtbarkeit sowie Anschlussfähigkeit auf nationaler und/oder internationaler, insbesondere europäischer Ebene