Vom 28.-29. August veranstaltet die Universität Bremen einen internationalen 2-tägigen Workshop zu dem Thema „Diaspora und (Post-)Digitalität. Vorgestellte Gemeinschaften im Netz“. InteressentInnen sind herzlich eingeladen bis 30. März einen Abstract einzureichen.
Die kulturwissenschaftliche Aufwertung des Diaspora-Begriffs geht einher mit einer größeren Präsenz diasporischer Bewegungen in den Medien, in Kunst und Literatur – ein Phänomen, das mit den Effekten der Globalisierung, hier insbesondere mit Transmigration und Transnationalisierung in Verbindung gebracht wird. Zugleich hält sich in der umfangreichen Literatur zum Phänomen der Diaspora noch immer die klassische Definition als “doppeltes Bewusstsein” (W.E.B. Du Bois 1903), simultan an zwei Orten zu sein. William Safran (1991) beschrieb “Diaspora” bekanntlich als minoritäre Gemeinschaft, die sich ausgehend von einem ursprünglichen Zentrum auf mehrere Orte verstreut und ein Gedächtnis, gar einen Mythos, bezüglich der verlorenen Heimat kultiviert. Kollektive Identität wird hier über die imaginäre Beziehung zur “Heimat” und über die Figur der meist ersehnten Rückkehr konstruiert.
Neuere Ansätze haben den Begriff im Hinblick auf postkoloniale Kontexte und Migration im Zeitalter der Globalisierung ausdifferenziert und Diaspora als transnationale Formation und hybrides Netzwerk im Sinne einer “vorgestellten Gemeinschaft” (Benedict Anderson 1983) in den Blick genommen. Aus dieser Perspektive wird eine Definition, die ganz auf die Dichotomie von Hier und Dort baut, infrage gestellt, obwohl sie – so die Vermutung – insbesondere in populären Vorstellungen von Diaspora fortlebt. Dabei ist mit der gesellschaftlichen Digitalisierung zweifellos auch ein grundlegender Wandel in Konstitution, Selbstverständnis und Praxis von diasporischen Gemeinschaften verbunden. Der Workshop nimmt es sich zur Aufgabe, das neuartige Verhältnis von Diaspora und (Post-)Digitalität theoretisch auszuloten und anhand von Fallbeispielen zu untersuchen, wie sich marginalisierte Gruppen im Netz als imagined communities entwerfen. Dafür greifen wir den Begriff der “digitalen Diaspora” auf, der gerade aufgrund seiner bisherigen Vagheit Potenzial bietet für die reflexive Aufarbeitung des angedeuteten Spannungsfeldes.
Schon in Benedict Andersons (1983) klassischer Studie ist die Konstruktion vorgestellter Gemeinschaften an medientechnische Erneuerungen gebunden. Auch diasporische Gemeinschaften sind auf Medien angewiesen, um ihrer Grundbedingung, der Zerstreuung, entgegenzuwirken, wobei gerade durch das Internet bisher nicht dagewesene Möglichkeiten transterritorialer Vernetzung (mit dem homeland wie auch zwischen dezentrierten diasporischen Netzwerken) entstanden sind. Koleade Odutola (2012) verwendet den Begriff “cyber-framing” im Verweis auf die Möglichkeiten, die der digitale Raum etwa digital vernetzten Afrikaner*innen in der Diaspora eröffnet, um die Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Gesellschaften neu auszugestalten, und knüpft an Arjun Appadurais Modernity at Large (2008 (1996)) an, indem er Diaspora im 21. Jahrhundert im Kontext einer globalisierten Welt denkt, die durch Massenmigration und elektronische Medien charakterisiert ist. Worin besteht aber die Spezifität der (post-)digitalen Diaspora? Das digitale “Über-All”, so deklarieren etwa Volker Grassmuck und Claudia Wahjudi (2000), biete lokalen Communities vielfältige Möglichkeiten globaler Vernetzung im “Kulturraum Internet”. Dass sich heutige Diaspora-Bewegungen eher über community media als über mass media definieren, hat Folgen für ihr Selbstverständnis und ihre Performationen.
Der Workshop konzentriert sich auf diesen (Nicht-)Ort im Netz und seine Funktion für Darstellungspraktiken und Identitätskonstruktionen diasporischer Gemeinschaften und untersucht in diesem Kontext seine mediale, kulturelle und auch ästhetische Beschaffenheit, indem er einen dezidiert kulturwissenschaftlichen Blick auf die “Texturen” dieser Bewegungen wirft. Hierdurch sollen Dichotomien von Hier und Dort, aber auch von Produzent*in und Konsument*in, sprich: von “digitaler” und “analoger” Wirklichkeit überwunden werden. Tatsächlich werden diese Gegensatzpaare im Begriff des Postdigitalen bereits aufgelöst. Nicholas Negroponte beschrieb diese neue Kondition in Beyond Digital an der Schwelle zum 21. Jahrhundert als nicht-territoriale Daseinsform in einer widersprüchlichen Welt, in der die Nation sich in Erosion befände: weder groß genug, um global zu sein, noch klein genug, um als lokal zu gelten. Zudem läutete Negroponte aber auch eine Historisierung des Digitalen selbst ein, das sich mittlerweile in alle (auch analoge) Lebensbereiche eingenistet habe. In der deutschen Kulturtheorie bisher noch wenig verankert, bezeichnet “Postdigitalität” einerseits eine Konfiguration, in der sich “analog” und “digital” untrennbar durchmischen und der Fokus von “Produktion” zu “Zirkulation” wandert, andererseits aber auch eine kritische Revision des Digitalen. In diesem Sinne wird etwa der dem Internet zu Beginn der Digitalisierung zugeschriebenen utopischen Dimension transnationaler Gemeinschaftsbildung und Solidarisierung zunehmend kritisch widersprochen.
Mögliche Fragestellungen: Zur Diskussion stehen kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen von Diaspora im digitalen Raum. Es ist zu fragen, wie sich digitale Diaspora-Gemeinschaften konstituieren, welche Unterschiede zur analogen Welt festzustellen sind bzw. inwiefern diese beiden Bereiche im Sinne einer postdigitalen Perspektive überhaupt noch zu trennen sind und welche Reibungspunkte sich möglicherweise ergeben. Welche Narrative und Gedächtniskonzeptionen der digitalen Diaspora werden im Netz aufgefächert und inwiefern spielen Dezentralisierung und Konnektivität als Kern einer „neuen“ Poetik eine zentrale Rolle? Inwiefern artikulieren diasporische Gruppen im Netz agency und welche Medien kommen zur Anwendung (Online-Plattformen, Blogs, soziale Netzwerke, aber auch Print-Formate, die Digitales verhandeln bzw. mit Äußerungen im digitalen Raum verflochten sind)? Welche Raumdimensionen der digitalen Diaspora kommen darüber hinaus zum Tragen und welche Bedeutung kommt der Frage von (Trans-)Territorialität zu? Außerdem stellt sich die Frage nach den Inszenierungen von Ethnizität, ‚Race‘, Klasse, Gender, Sexualität, Religion etc. sowie den Überkreuzungen damit einhergehender Ungleichheitsregime im digitalen diasporischen Raum. Die hier formulierten Leitfragen sind als kritische Lesarten des Konzepts der digitalen Diaspora zu verstehen, können von den Teilnehmer*innen aber auch quergelesen oder weitergedacht werden.
Zielsetzung: Der Workshop mit primär theoretischem Erkenntnisinteresse fokussiert auf Fallbeispiele aus europäischen Kulturräumen, die mit unterschiedlichen Diaspora-Traditionen und zeitgenössischen Diaspora-Bewegungen verknüpft sind, und aus deren komparatistischer Rahmung wir uns neue Perspektiven für die Forschung versprechen. Er setzt sich zum Ziel, sowohl klassische diasporische Gruppen in den Blick zu nehmen als auch solche, die bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Der Fokus liegt auf Beiträgen aus den Bereichen der Anglistik, Germanistik und Romanistik.
Deadline: Bitte schicken Sie Abstracts im Umfang von 200-300 Wörtern sowie einen kurzen CV (max. 100 Wörter) bis zum 30. März 2020 an Dr. Linda Maeding (maeding@uni-bremen.de). Tagungssprachen sind Deutsch, Spanisch und Englisch. Reisekosten können leider nicht übernommen werden.
Mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 353492083 und 404354183 sowie dem spanischen Forschungsprojekt REC-LIT: Reciclajes culturales (Projektnummer RTI2018-094607-B-I00).
In Kooperation mit dem Institut für postkoloniale und transkulturelle Studien (INPUTS) und der interdisziplinären Verbundforschungsinitiative Worlds of Contradiction der U Bremen.