In dem komplexen und vielfältigen Raum, den wir als die Amerikas verstehen, lässt sich ein Forschungsaufschwung erkennen, der die Zusammenhänge zwischen Raum, Zeitlichkeit und Gedächtnis berücksichtigt. So zeichnen sich in der Region verschiedene Ansätze, Theorien, Annäherungen und soziokulturelle Prozesse ab, die versuchen, die offiziellen Historiographien und Zukunftsvorstellungen neu zu konfigurieren und die verschiedenen Krisen, die hemisphärisch transnational sind, zu problematisieren, indem sie mit den traditionellen Klassifizierungen der Area Studies brechen, die oft die Nord-Süd-, Atlantik-Pazifik-Verflechtungen etc. übersehen. In diesem Sinne versuchen verschiedene interdisziplinäre Ansätze, den Wahrnehmungsweisen der Vergangenheit und den unterschiedlichen Zeitlichkeiten und Zeitvorstellungen, die der Begriff der Zukunft impliziert, nachzuvollziehen oder zu erklären, und versuchen so, eine Antwort oder eine Alternative zur klassischen Historiographie zu sein. Dabei kommt es jedoch zu vielfältigen Auseinandersetzungen mit sozialen und politischen Subjektivitäten, der Konstruktion von Geschichte und dem Status von „Wahrheit“.
Diesbezüglich haben Autoren wie J. und A. Assmann, Todorov, Hirsch, Jelin und andere darauf hingewiesen, dass die Entwicklung eines Gedächtnisses kein perfektionierbarer Prozess oder ein Spiegel der Realität ist. Im Gegenteil, die Subjekte konstruieren Gedächtnisse in Bezug auf bestimmte Rahmen oder Framings der Realität, wobei das Erinnern und das Vergessen als konstitutive Elemente des Gedächtnisses fungieren. Insbesondere in den Amerikas zeichnen sich vielfältige Versuche zur Gedächtnisbildung ab. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die mit dem nationalen Gedächtnis verbunden sind, in denen der Staat und die Eliten diejenigen sind, die die offiziellen Geschichten über bewaffnete Konflikte, Friedensprozesse, Kriege, Diktaturen, Rassenkonfiikte, Imperialismus und andere konstruieren. Auf der anderen Seite, und als Antwort auf diese Strömung und auf die allgemeine Krise der großen Narrativen und Theorien, entstehen eine Vielzahl von Produktionen, die Raum für subalternisierte Subjekte, dissidente Körper oder Post-Gedächtnisse geben, die in der Regel von der offiziellen Geschichte ausgeblendet worden sind.Emanzipatorische soziale Bewegungen wie Black Lives Matter und Ni Una Menos sind nur einige solcher Beispiele für mögliche Neulesungen hegemonialer Narrativen.
Diese neuen theoretischen, historischen, literarischen, politischen und kulturellen Ansätze problematisieren die Konstruktion des Zeitzeugnisses aus dem Binom der Realität-Fiktionalität. Aus diesen werden jene vielfältigen Formen der Geschichtsschreibung, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten erforscht, die nur durch die Überwindung der Erinnerung als faktischer Tatsache möglich sind.
Der Dritte Internationale Kongress der Interamerikanischen Studierenden soll ein Raum für den transdisziplinären AUStaUSCh von Diskussionen Über diese Problematiken des Gedächtnisses und den Erinnerungen sowie über die verschiedenen Zeitebenen und Zeitvorstellungen sein, die Gegenstand der Debatte sind. Dazu wird der Kongress die folgenden Themenbereiche vorschlagen:
Politik und Gesellschaft
In den Amerikas finden eine Vielzahl von gesellschaftspolitischen Prozessen statt: (Neo-)Kolonialismus, Diktaturen, Friedensprozesse, Exil, (Neo-)Extraktivismus und andere, die als Folge Raum für die Entwicklung verschiedener sozialer Bewegungen wie Nationalbewegungen oder Indigene, Arbeiterlnnen, Bäuerlnnen, Feministlnnen, Bewegungen sexueller Diversität usw. geschaffen haben. Diese sozialen Bewegungen kämpfen nicht nur um die Macht gegen den Staat und die Gesellschaft selbst, sondern auch um die Konstruktion von Geschichte und Wahrheit, insbesondere diejenige, die mit staatlicher Gewalt zusammenhängt.
Dieser Disput um die Legitimation einer Narrative oder (Post-) Erinnerungen ist besonders spannungsgeladen, wenn es darum geht, die Grenzlinie zwischen Opfer-Täter, Zeugnis-Zensur zu (re-) konstruieren oder aufzuzeigen. Das macht die Erinnerungsstudien zu einem fruchtbaren Boden für die Problematisierung von Politik und dem Politischen, Öffentlichem und Privatem, und wie das Narrativ unterschiedliche Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten projiziert. Dieser Schwerpunkt des Kongresses versucht, die folgenden thematischen Linien anzusprechen: Erinnerungsorte und politischer Gebrauch des Gedächtnisses; Erinnerungspolitik; Gebrauch und Missbrauch der Vergangenheit; Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Wahrheitskommission; (Post-)Erinnerungen und subalterne Gedächtnisse.
InterAmerikanisches Denken
Die Natur des Gedächtnisses und seine Prozesse waren grundlegend für die philosophische und sozialwissenschaftliche Diskussion, insbesondere in Bezug auf Fragen des menschlichen Wissens. Auch im Kontext der Amerikas hat das Gedächtnis eine zentrale Rolle gespielt, die sich aus der Produktion indigener Gruppen und der Frage nach dem Naturgedächtnis ableiten lässt; in der Diskussion um nationale Identitätskonstrukte, der Entstehung des Pragmatismus in den Vereinigten Staaten und sogar der Frage nach den durch die Kolonisierung unterbrochenen Prozessen können nachvollzogen werden. Die Diskussion über das Gedächtnis und seine verschiedenen Prozesse ist mehr als nur die Ausnahme, sie ist ein charakteristisches Merkmal des Denkens in den Amerikas.
Die in oder von den Amerikas produzierten Entwicklungsvisionen, Dependenztheorien oder Zentrum-PeripherieTheorien spiegeln die zentrale Rolle der Zukunft und der Erinnerungsprozesse wider. Ein interamerikanischer Fokus der Gedächtnis- und der Erinnerungsstudien stellt eine Gelegenheit dar, die komplexen Beziehungen zwischen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Prozessen auf verschiedenen Ebenen (lokal, national, global) und die Gedächtnis-, die Identitätsbildung und die Zukunftsideen in den verschiedenen Formen, in denen sie auftreten können, zu untersuchen. In diesem Sinne besteht auch die Möglichkeit, die Erfahrungen der indigenen Völker anzuhören und zu reflektieren, die jahrhundertelang der Unterdrückung widerstanden haben und Fragen aufwerfen wie die der Rolle der Sprache oder der mündlichen Überlieferung, sowohl in Erinnerungsprozessen als auch in Zukunftsprojekten. Dieser Schwerpunkt lädt zu Vorschlägen ein, die das Konzept der Erinnerung und der Zukunft an sich und anhand konkreter Fälle in Frage stellen, die uns erlauben, diese Konzepte von den Amerikas aus zu reflektieren und zu hinterfragen. Ebenso wird eine konzeptionelle Reflexion von und über amerikanische Autoren wie Jelin, Mansilla, Castro-Gómez, Borges oder anderen Stimmen, die diese Aspekte problematisieren, gewünscht.
Narrative
Der Versuch, ein homogenes Konzept von Narrativen in den Amerikas zu generieren, würde an sich schon bedeuten, alle historischen, sozialen und kulturellen Prozesse zu leugnen, die die verschiedenen Regionen des Kontinents mit ihren jeweiligen Narrationen durchkreuzen und verflechten. Daher ist es notwendig, von einer breiten Definition von Narrative auszugehen, die verschiedene ästhetische und kulturelle Ausdrucksformen umfasst: Kino, Literatur, Musik, Medien, Malerei usw.
Diese Narrationen bilden das Fundament des Gedächtnisses, sowohl des kollektiven (Halbwachs) als auch des individuellen (Bruner), da sie Möglichkeiten darstellen, Diskurse, Erfahrungen und historische Ereignisse zu organisieren. Gleichzeitig formulieren sie neue Zukunftsvorstellungen, weshalb es wichtig ist, Konzepte zu problematisieren, die sich aus der Verflechtung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit ableiten, wie Fortschritt, Fiktion, Wahrheitssuche, Vertreibungen und Gewalt- und Friedensprozesse. Dieser Schwerpunkt des Kongresses schlägt vor, sich mit den verschiedenen ästhetischen Mitteln auseinanderzusetzen, die von den Amerikas aus und zu den Amerikas hin generiert wurden und die das Verhältnis zwischen Politischem und Künstlerischem mit neuen Bedeutungen versehen. Gesucht werden hier Beiträge, die sich auf Aspekte Amerikas wie Geschichte, Grenze, Bewegung, Körper, Identitäten und Widerstände beziehen und diese in Frage stellen.
Informationen zur Bewerbung
Die Ausschreibung richtet sich an Masterstudierende und Doktoranden der interamerikanischen (latein-, nordamerikanischen, karibischen) Studien und verwandten Bereichen. Bewerbungen können einzeln oder im Rahmen von Paneldiskussionen eingereicht werden. Die Proposals müssen folgende Informationen enthalten: Titel der Arbeit, Name und akademische Zugehörigkeit, E-Mail, Schlüsselbegriffe. Die vorgeschlagenen Panels müssen aus mindestens 3 und höchstens 5 Personen bestehen. Ein Abstract von maximal 400 Wörtern in Englisch, Deutsch, Spanisch oder Portugiesisch ist bis zum 10. März 2020 an die folgende E-Mail zu senden: congresoiasbielefeld@gmail.com.
Deadline für die Einreichung von Abstracts und Paneldiskussionen: 10. März 2020
Bestätigung der Annahme von Beiträgen und Paneldiskussionen: 30. März 2020 Bestätigung der Teilnahme durch die Teilnehmenden: 20. April 2020
Für weitere Informationen: Fachschaft IAS congresoiasbielefeld@gmail.com